Prof. Gu im Interview mit bdvb: „Für Europa birgt die ‚Neue Seidenstraße‘ mehr Chancen als Gefahren“
Die Neue Seidenstraße wird in Europa kontrovers diskutiert. Droht Europa, zwischen den Handelsmächten USA und China zum Spielball oder gar gespalten zu werden? Was verbirgt sich hinter dem Mammutprojekt? Das fragte bdvb aktuell Professor Dr. Xuewu Gu, Direktor des Center for Global Studies an der Universität Bonn.
bdvb akuell: Herr Gu, in wenigen Sätzen erklärt: Was ist die „Neue Seidenstraße“?
Xuewu Gu: Die „Neue Seidenstraße“ ist die deutsche Bezeichnung für die chinesische Initiative „One Belt One Road“ oder die „Belt & Road Initiative“ (BRI), die Chinas Staats präsident Xi Jinping 2013 in Kasachstan ankündigte. Sie beruht auf der Vision der chinesischen Führung, die Verknüpfung von wirtschaftlichen Regionen zwischen China und Europa, aber auch darüber hinaus, mittels gezielter Infrastrukturprojekte zu verstärken. Hinter dieser gigantischen Initiative, die mehr als 65 Länder mit 4,4 Milliarden Menschen und 40 % der Weltwirtschaftsleistung umfasst, steht die Ambition Chinas, die Verbundenheit des Landes mit der Welt auf ein neues Niveau zu heben, und zwar proaktiv und global orientiert.
bdvb akuell: Welches sind die wichtigsten Infrastrukturprojekte und in welchem Umfang investiert China im Rahmen der Initiative?
Xuewu Gu: Gesamtinvestitionen von mehr als 900 Milliarden US-Dollar in sechs verschiedene Infrastrukturkorridore wurden angekündigt. Seit Beginn des Projektes hat China bereits mehr als 90 Milliarden USD in BRI-Projekte investiert. Die wichtigsten Großprojekte sind zum Beispiel das Projekt „Silk Road Economic Belt – Ausbau der Landverbindung von China nach Europa“, das Projekt „Maritime Silk Road – Ausbau zweier Seerouten von China über Europa, Afrika und den südpazifischen Raum“ sowie der „Economic Corridor“, der sechs verschiedene Landrouten im asiatischen und eurasischen Raum umfasst. Allerdings ist die exakte Anzahl von Einzelprojekten aufgrund der hochfragmentierten Struktur der BRI nur sehr schwer messbar.
bdvb akuell: Wie weit sind die Arbeiten fortgeschritten? Beispielsweise der Aufbau von Zugverbindungen und Straßen, die durch Westchina führen?
Xuewu Gu: Soweit es sich von außen überblicken lässt, hat China bis März 2019 bereits 173 Kooperationsabkommen mit 125 Staaten und 29 internationalen Organisationen abgeschlossen. Auf dem BRI-Forum im April 2019 in Peking wurden weitere 283 Projekte zwischen chinesischen Firmen bzw. Institutionen und Unternehmen aus anderen Ländern, unter anderem aus Deutschland und Frankreich, vereinbart. In den letzten fünf Jahren hat China bereits mehr als 1.200 neue internationale Strecken eröffnet, was mehr als zwei Drittel des gesamten internationalen Streckenausbaus in diesem Zeitraum ausmacht. Als grundlegend abgeschlossen scheint zudem der Aufbau der Western China-Western European International Expressway, die Westchina, Kasachstan, Russland und Westeuropa verbindet. Der Gesamtfortschritt der Initiative ist dagegen schwer zu messen, da es sich nicht um einen einheitlichen Plan handelt, der von einer zentralen Stelle koordiniert wird.
bdvb akuell: Wann soll das Projekt abgeschlossen sein?
Xuewu Gu: Die Initiative scheint als Geschichte ohne Ende konzipiert zu sein. Ich bin nicht sicher, ob die Führung in Peking selber genau weiß, wann das Projekt abgeschlossen sein soll. Was sie sich aber klar vorstellt, ist eine stark sichtbare Verdichtung der Verbindungen Chinas zur Welt im Jahr 2049, zum 100. Jahrestag der Volksrepublik. Man träumt insbesondere von einer engeren Verbundenheit zwischen China und Europa durch Zuglinien, Schifffahrt, Flugverkehr, Mobiltelekommunikation, Internet und Straßen.
bdvb akuell: Bereits seit den 1990er Jahren gab es mit TRACECA erste Ansätze, neue Handelsrouten zu etablieren. Doch erst seit 2013 scheint die Politik das Projekt wirklich zu forcieren …
Xuewu Gu: Die BRI ist viel umfassender als TRACECA, der Verkehrskorridor Europa-Kaukasus-Asien. Dem TRACECA fehlt die strategische Dimension. Das China von 2013 ist nicht mehr vergleichbar mit dem der 1990er Jahre. Inzwischen war das Land zur zweitgrößten Volkswirtschaft aufgestiegen, die USA sahen in ihm den größten Herausforderer im 21. Jahrhundert. 2012 leitete Präsident Obama mit der Strategie „Pivot to Asia“ die Eindämmung der chinesischen Macht ein. Deshalb suchte das Reich der Mitte nach einer neuen Strategie, die weiteren Machtzuwachs ermöglicht, ohne die direkte Konfrontation mit den USA im Asien-Pazifik-Raum zu riskieren. Geostrategisch ist die BRI eine unmittelbare Reaktion auf die amerikanische Hinwendung nach Asien. Sich mit einer eigenen Hinwendung nach Europa dem Druck der amerikanischen Hinwendung nach Asien zu entziehen, war für die Führung in Peking eine sichere und vielversprechende Option.
bdvb akuell: Wie wird das Projekt in China gesehen? Welche Vorzüge und ggf. auch Nachteile oder Herausforderungen werden im Land diskutiert?
Xuewu Gu: Die Initiative hat das ganze Land mobilisiert, erzeugt aber auch unterschiedliche Sichtweisen. Unternehmen begrüßen die „Neue Seidenstraße“ leidenschaftlich. Insbesondere die Firmen, die nach der Finanzkrise 2008 massive Überkapazitäten aufgebaut haben. In der Tat sieht auch die Regierung – wenngleich unausgesprochen – in der BRI eine Art „Marshallplan-Effekt“. Entlang der riesigen Korridore zwischen China und Europa könnten neue Absatzmärkte entstehen und beim Abbau der chinesischen industriellen Überkapazitäten helfen. Kritik erntet die Regierung insbesondere von denen, die die Armut in ländlichen Gebieten bekämpfen wollen und hierfür dringend Geld brauchen. Für sie ist es viel wichtiger, die Menschen in den wenig entwickelten Hinterlands-Provinzen Yunan oder Guangxi aus der Armut zu holen, als Hochgeschwindigkeitstrassen zwischen Belgrad und Budapest zu bauen.
bdvb akuell: Welche innenpolitischen oder binnenwirtschaftlichen Ziele verfolgt China mit dem Projekt?
Xuewu Gu: Neben dem erhofften „Marshallplan-Effekt“ verfolgt die chinesische Regierung offensichtlich das Ziel, mittelfristig das Wirtschaftsleben im eurasischen Raum, der ja weitergehend vom globalen Kapitalfluss entkoppelt ist, zu beleben, um so neue Zielmärkte für den gigantischen, aber orientierungslosen Geldfluss Chinas zu schaffen. Noch wichtiger jedoch scheint mir die geoökonomische Natur des Programms. Die BRI hat langfristig das
Potenzial, Eurasien, also geopolitisches Herzland mit geoökonomisch lediglich peripherer Bedeutung, in einen modernen Wirtschaftsraum zwischen China und Westeuropa zu verwandeln. Wenn dieses Ziel Realität wird, entsteht eine revolutionär neue geoökonomische Landschaft, in der nur China und Europa, vielleicht auch Russland mit seinen unendlichen Ressourcen, eine Rolle spielen. Dass pazifische Mächte wie die USA und Japan dann von diesem eurasischen Spiel marginalisiert werden könnten, dürfte die logische Konsequenz der „Neuen Seidenstraße“ sein.
bdvb akuell: Welche außenpolitischen oder handelspolitischen Ziele verfolgt China?
Xuewu Gu: Die „Neue Seidenstraße“ stellt einen außenpolitischen Schachzug dar, mit dem vier Fliegen mit einer Klappe geschlagen werden sollen:
- Schattenboxen mit Washington, um die US-Strategie „Pivot to Europe“ sanft zu entkräften;
- Absicherung des kontinentalen Energiekorridors und Reduktion der Verwundbarkeit der Energieversorgung durch den Seeweg;
- effektive Vorbereitung für das Post-NATO-Afghanistan und rechtzeitige Positionierung in einem neuen geostrategischen Wettbewerb um Zentral- und Westasien;
- Gewinnung Europas als strategischer Partner für die Gestaltung der Weltpolitik in den kommenden Jahrzehnten.
bdvb akuell: In Europa wird das chinesische Engagement nicht nur positiv gesehen. Viele trauen der „Neuen Seidenstraße“ zu, den Westen zu spalten. Sie warnen vor wirtschaftlichen Abhängigkeiten.
Xuewu Gu: Ich sehe für Europa mehr Chancen als Gefahren, zumindest wirtschaftlich. Denn Infrastrukturprojekte sind in Europa dringend nötig. Ob man aber hierdurch politisch von China abhängig wird, ist eine Frage des politischen Geschicks und der Ausgestaltung. Eine zwangsläufige Korrelation zwischen ausländischen Investitionen und politischer Abhängigkeit lässt sich empirisch jedenfalls nicht belegen. China selbst ist in diesem Zusammenhang ein gutes Beispiel dafür, dass ausländische Investitionen nicht zwingend zu politischer Abhängigkeit führen. Die Regierung in Peking hat seit der Reform der 1980er Jahre insgesamt zwei Billionen US-Dollar ausländischer Direktinvestitionen ins Land geholt, ist aber politisch unabhängig geblieben, für viele sogar aggressiver geworden. Dass der Westen sich aktuell zu spalten scheint, ist meines Erachtens eher auf die „America First“ Politik des US-Präsidenten Trump zurückzuführen als auf die „Neue Seidenstraße“. Kritik an Chinas Investitionen in Mittel- und Osteuropa im Rahmen des sogenannten „16+1 Mechanismus“ ist dennoch verständlich, da das „Driften“ der Länder nach Osten durch Chinas Investitionen effektiv beschleunigt wurde, auch wenn die Intention, Europa zu spalten, nicht zum strategischen Kalkül Chinas gehört. Analytisch stellt sich China im Hinblick auf die Entfremdung Italiens, Polens oder Ungarns von Brüssel eher als Beschleuniger denn als Verursacher dar.
bdvb akuell: Im März hat Italien als erstes G7-Land eine Absichtserklärung über die Zusammenarbeit mit China unterzeichnet. Wie wurde dieser Meilenstein in China wahrgenommen?
Xuewu Gu: Von Peking wird dies als großer Sieg der chinesischen Diplomatie gesehen, insbesondere vor dem Hintergrund, dass sich die USA erhebliche Mühe gegeben haben, Rom von seinem „Seidenstraße-Abenteuer“ abzuhalten. Die italienische Regierung aus Fünf-Sterne-Bewegung und ihrem rechtskonservativen Partner hat sich aber trotz Bedenken aus Washington und Brüssel zu dem Schritt entschlossen, um die schwache Wirtschaft des Landes, die seit 20 Jahren faktisch kein Wachstum kennt, mit chinesischem Geld wiederzubeleben. Die von den Amerikanern an die Wand gemalte Gefahr einer Schuldenfalle nimmt Italien in Kauf. Tatsächlich verspricht die „Neue Seidenstraße“ den Italienern sehr viel. Allein die Fünf-Häfen-Allianz der italienischen Häfen von Venedig, Triest und Ravenna mit dem slowenischen Hafen Capodistria in Koper und dem kroatischen Port Fiume hat das Potenzial, die Obere Adria in eine boomende Drehscheide der globalen Seefahrt zu verwandeln. Für „Mega-Ships” aus Shanghai soll rund um die Hafengruppe eine moderne Infrastruktur aufgebaut werden. Die entstehende Route solle die „Shipping Time“ der chinesischen Waren von Shanghai nach Zentral-, Ost- und Nordeuropa radikal verkürzen. Wenn die Allianz der Oberen Adria im Rahmen der Seidenstraße langfristig den Betrieb aufnimmt, müssen Hamburg und Rotterdam um einen Teil ihrer Geschäfte bangen. Denn der Seeweg von Shanghai nach Hamburg beträgt rund 11.000 Seemeilen, über die Obere Adria sind es nur 8.600.
bdvb akuell: Haben Sie das Gefühl, dass in Europa und Deutschland verstanden wird, wie umfassend die „Neue Seidenstraße“ die Handelswelt von morgen verändern wird?
Xuewu Gu: Nein, das geostrategische und geoökonomische Gespür ist in Europa und Deutschland leider ein wenig verloren gegangen. Es mangelt häufig an politisch-strategischer Voraussicht, die wichtiger denn je erscheint, um die Zukunft Europas und Deutschlands gegenüber den strategisch denkenden Chinesen, Russen und Amerikanern zu sichern.
bdvb akuell: Wie wichtig ist die Initiative für den anhaltenden Konkurrenzkampf mit den USA?
Xuewu Gu: Für Peking hat die „Neue Seidenstraße“ die Funktion, Chinas strategischen Spielraum im Konkurrenzkampf mit den USA zu vergrößern, nicht nur geopolitisch und geoökonomisch, sondern auch geokulturell. Chinas nordwestliche Regionen sind stark islamisch geprägt, insbesondere die Provinz Xinjiang. Tausende junge Muslime haben sich im benachbarten Afghanistan vom IS ausbilden lassen und für den IS in Syrien gekämpft. Aus dem Scheitern der amerikanischen Kampfeinsätze zur Befriedung Afghanistans zog Peking hinsichtlich der Dauerunruhe in Xinjiang die Lektion, dass Kulturkampf militärisch nicht gewinnbar, aber ökonomisch auflösbar sein könnte. Der Ansatz „Materialismus versus Fundamentalismus“ wurde für Peking ein Zauberwort. Man glaubt, den islamischen Radikalismus durch wirtschaftliche Modernisierung besänftigen zu können. Dabei spielt die „Neue Seidenstraße“ eine wichtige Rolle. Sie soll die Provinz Xinjiang vom Randgebiet des Landes zur Drehscheibe des eurasischen Wirtschaftsraums führen. Mehr Jobs, mehr Wohlstand, mehr Wohnungen, mehr Autos und mehr Zukunftsperspektiven durch die „Neue Seidenstraße“, so die Kalkulation von Peking, könnten die Brutstätte für den islamischen Radikalismus zerstören und somit zur Entradikalisierung jüngerer Uiguren beitragen.
bdvb akuell: Herr Gu, vielen Dank für dieses Interview!
Mehr Informationen und die aktuelle Ausgabe (Nr. 145) von bdvb aktuell unter dem Titel ‚Weltmacht China‘ finden Sie hier:
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